Ess-Störungen

Weihnachten steht vor der Tür. Und an den Feiertagen werden viele von uns viel Zeit mit ihren Lieben verbringen — und mit gutem Essen. Viel gutem Essen. Und wie jedes Jahr setzt bald nach den Feiertagen der Katzenjammer ein. Der Katzenjammer über das Völlegefühl und die hinzugewonnenen Pfunde. Und wie so oft starten wir das neue Jahr mit der Suche nach einer neuen Diät um diese Pfunde so schnell wie möglich wieder loszuwerden.
Jetzt ist also ein interessanter Zeitpunkt, sich etwas ausführlicher mit dem Thema Ess-Störungen zu beschäftigen.

Die Ernährung erfüllt wie die Sexualität ein Grundbedürfnis des Menschen. Ohne Nahrung stirbt das Individuum, ohne Sexualität stirbt unsere Gattung. Die Beschäftigung mit Nahrung, sei es ihre Beschaffung, ihr Anbau, ihr Genuss oder ihre Zubereitung steht oft im Zentrum der menschlichen Kulturen.
Und genau aus diesem Grund sind Störungen des individuellen Essverhaltens stets ernst zu nehmen. Sie verursachen bereits nach relativ kurzer Zeit körperliche Schäden, die sogar lebensbedrohlich werden können.

Daher schauen wir uns heute folgende Ess-Störungen etwas genauer an:

  • die Anorexia nervosa
  • die Bulimia nervosa und
  • die Orthorexia nervosa

Die wohl bekanntesten Ess-Störungen, Anorexia nervosa und die Bulimia nervosa, werden stationär in spezialisierten Kliniken behandelt. Eine Therapie durch einen Heilpraktiker kommt allenfalls in der Nachsorge in Frage und auch dann nur in enger Absprache mit den behandelnden Ärzten oder den hierfür spezialisierten Psychologischen Psychotherapeuten.

Trotzdem lohnt sich die nähere Beschäftigung mit dem Thema. Einerseits muss ein Heilpraktiker die wichtigsten Symptome der Erkrankungen kennen, falls er Patienten behandelt, bei denen die Ess-Störung bisher noch nicht diagnostiziert wurde. Aus diesem Grund ist das Thema auch in der Prüfung zum Heilpraktiker Psychotherapie relevant. Und das Wissen hierum ist in der Vergangenheit sowohl in der mündlichen als auch in der schriftlichen Prüfung abgefragt worden.
Andererseits kann der Heilpraktiker durchaus in die Situation kommen, dass er mit Angehörigen oder Freunden von Betroffenen konfrontiert wird und dann ist eine fundierte Kenntnis solcher Störungsbilder natürlich unerläßlich.

Fangen wir am besten mit dem allgemeinen Störungsmodell an, dass allen Ess-Störungen zu Grunde liegt. Hierin werde ich die einzelnen Störungen kurz vorstellen und auch auf ihre Leitsymptome eingehen.
Zum Schluss beschäftigen wir uns noch mit einer eher neue Erkrankungsform, die Orthorexia nervosa.

Also, los geht’s: Das Störungsmodell, das allen Ess-Störungen zu Grunde liegt, geht von prädisponierenden Faktoren aus. Damit sind alle Bedingungen gemeint, die das erstmalige Auftreten begünstigen.
Zu diesen Bedingungen nennt das Standardwerk, der Pschyrembel Psychiatrie, zunächst einmal ein soziokulturell vorgegebenes Schlankheitsmodell.

Was bedeutet das? In unserer Kultur gilt momentan eine schlanke Frau als schön und eine dicke Frau als häßlich. Ich sage bewusst momentan, weil Schönheitsmodelle sich im Laufe der Zeit verändern und schlank ein relativer Begriff ist.

Schauen wir uns zum Beispiel europäische Filme aus den 1950er Jahren an. Uns fällt rasch auf, dass spezielle breitere Hüften als schön galten. Ähnlich wie bei den Barock-Malern, die auf ihren Bildern auch eher üppige Frauen darstellten.

Die Kulturgeschichtler stellen übrigens zwischen Schönheitsidealen und den Erfahrungen von Krieg und Hunger einen Zusammenhang her: Nach Zeiten großer Entbehrung sind Fettansammlungen ein Zeichen von Wohlstand und Gesundheit. Sie werden also als erstrebenswert und schön empfunden.
Diese Beobachtung gilt übrigens nicht nur für Frauen, sondern ebenso für Männer. Die barocken, dicken kleinen Putten und der Wohlstandsbauch bei Männern in den 1950er Jahren spricht Bände: von einem Waschbrettbauch ist hier nichts zu sehen.

Doch die Zeiten änderten sich: Schon in der nächsten Generation wurde die extreme Schlankheit eines weiblichen Körpers zum Ideal — Twiggy wurde zum Vorbild. In der darauffolgenden Generation schließlich kam das Ideal eines schlanken Männerkörpers auf. Und es herrscht seitdem mit leichten Variationen, was die Größe und Definiertheit der Muskulatur angeht, bis in unsere tage vor.

Ein Körperideal ist jedoch nicht nur zeit-, sondern auch kulturabhängig. So gelten in verschiedenen afrikanischen und nahöstlichen Kulturen deutlich dickere weibliche Körper als schön und begehrenswert. Dies führt in einem Einwanderungsland wie Deutschland nicht selten zu interessanten kulturellen Missverständnissen.
Für viele Deutsche — im Sinne der oben beschrieben Enkelgeneration der Nachkriegszeit — wirken beleibtere Frauen mit Migrationshintergrund ungepflegt und wenig attraktiv.
Genauso werden die überschlanken weiblichen Körper — die von jener Generation für schön befunden werden — in den Augen der Migrantinnen häufig als verhungert und sinnesfeindlich wahrgenommen.

Neben solchen eher kuriosen Fehlwahrnehmungen ist die tatsächliche Gefahr, die von dem Ideal eines überschlanken Körpers ausgeht nicht zu unterschätzen. Vor allem wenn sich ein solches Ideal mit dem zweiten prädisponierenden Faktor einer Ess-Störung paart, einem irrationalen kognitiven Schema.

Das kann zum Beispiel die Überzeugung sein, dass ich nur geliebt und begehrt werde, wenn ich ebenfalls diesem Schlankheitsideal entspreche. Oder die Überzeugung, dass ich meinen Körper in eine solche Form bringen muss, sei es durch übermäßigen Sport oder eine radikale Veränderung meiner Ernährungsweise. Oder durch beides.
Irrational werden solche Vorstellungen genannt, weil sich hier bloße Annahmen zu Überzeugungen verfestigen. Und zwar ohne sie vorher in der Realität zu überprüfen.

Ein dritter Risiko-Faktor sind Körperkonzepte und Essverhalten, das in der eigenen Familie, also gewissermaßen im privaten Bereich vorgelebt werden. Herrscht auch in der Familie ein Schlankheitsideal vor, wird dieses vom Kind in den meisten Fällen unhinterfragt übernommen.
Probleme können dann vor allem in der Pubertät auftreten, in die der Beginn der so genannten Magersucht häufig fällt: Im Versuch sich von den Erwartungen und Vorbildern der Eltern abzugrenzen, kann es zu einer Radikalisierung des Essverhaltens kommen. Das Gewicht des pubertierenden Mädchens sinkt dann unter die Grenze dessen, was gesund ist.

Eine andere Reaktion kann auch darin bestehen, gegen das Essverhalten des schlanken mütterlichen Vorbildes bewusst zu verstoßen und mehr oder weniger willentlich zuzunehmen um sich abzugrenzen.
In einem solchen Fall kann es fatal sein, wenn eine Mutter auf die Gewichtszunahme ihrer Tochter mit dem Angebot reagiert, gemeinsam eine Diät zu beginnen. Hierdurch wird die Mutter nämlich erneut zum Bezugspunkt, von dem sich die Tochter doch gerade lösen möchte.

Als vierten prädisponierenden Faktor nennt der Pschyrembel weitere Lernerfahrungen mit Nahrungsaufnahme.
Damit ist die grundlegende Erkenntnis gemeint, dass man die Nahrungsaufnahme bewußt steuern und willentlich eine Gewichtsreduktion herbei führen kann. Der Körperbau wird als Produkt des eigenen Willens verstanden, der nach belieben formbar und dadurch beherrschbar wird.
Diese auf den ersten Blick banale Erkenntnis hat jedoch speziell auf den Körper einer oder eines Pubertierenden beträchtliche Bedeutung. Vor allem, wenn gegenüber den normalen körperlichen Veränderungen der Pubertät Angst und Gefühle der Unkenntnis oder des Mißtrauens herrschen.
In dem ich den Körper überschlank halte, verringere ich auch die typisch weiblichen Fettansammlungen an Brust oder Hüfte und kann so meinen mir bekannten kindlichen Körper behalten. Ähnliches gilt bei einer übermäßigen Gewichtszunahme, hier kann sich der kindliche Körper gewissermaßen in einer amorphen Masse von Körperfett verstecken. Auch wenn die Ergebnisse sich radikal unterscheiden: In beiden Fall wird eine Kontrolle über den Körper eigenständig und zielgerichtet ausgeübt.

Der fünfte prädisponierenden Faktor ist ein genetischer: in einem gewissen Rahmen ist der menschliche Körperbau genetisch vorgegeben. Besitzt ein pubertierender Jugendlicher nun genetisch bedingt einen eher rundlichen Körperbau, ist das Ringen um Schlankheit schwieriger. Das kann dazu führen, dass der Kampf um den schlanken Körperbau umso erbitterter geführt wird. Die erwähnten kognitiven Schema nehmen dann einen umso größeren Stellenwert in der Selbstbeurteilung ein.

Doch nicht jeder Mensch, für den die genannten 5 prädisponierenden Faktoren gelten, entwickelt zwangsläufig eine Essstörung. Zu einer solchen Prädisposition müssen auslösende Faktoren hinzutreten.
Die wichtigsten auslösenden Faktoren sind hierbei so genannte kritische Lebenssituationen. Hierzu gehören z.B. die Trennung der Eltern oder neue Lebensanforderungen wie ein Umzug oder ein Schulwechsel.
Auch körperliche Krankheiten können auslösende Faktoren sein. Zum Beispiel langwierige Erkrankungen, die mit Gewichtsverlust einhergehen. Oder Erkrankungen, die einen Bezug zur Ernährung haben und bestimmte diätetische Ernährungsweisen erfordern.

Kommt es zu einer Ess-Störung treten erste, typische Symptome auf:

  • eine übermäßige gedankliche Beschäftigung mit dem Thema Ernährung
  • Essanfälle
  • Erbrechen
  • der Missbrauch von Abführmitteln und
  • die Gewichtsreduktion.

Anorexia Nervosa — auch als Magersucht bekannt — wird bestimmt durch die Gewichtsabnahme. Dazu gehört nicht nur die Reduzierung der Kalorien, sondern eventuell auch der Missbrauch von Abführmitteln und übermäßiger Sport.
Essanfälle, gepaart mit anschließendem, selbstinduziertem Erbrechen sprechen dagegen eher für das Krankheitsbild der Bulimia nervosa, dem so genannten Bullenhunger.
Die ICD differenziert die Krankheitsbilder noch genauer nach der Symptomlage, was in unserem Zusammenhang aber nicht so entscheidend ist.
Egal welche Essstörung vorliegt — alle haben körperliche und psychosoziale Folgen, die im Falle der Anorexia Nervosa auch zum Tod führen können. Zu den körperlichen Störungen gehören z.B. Störungen der Botenstoffe im zentralen Nervensystem, wodurch depressive Stimmungslagen ausgelöst werden können.
Es kann zu Störungen des Hormonhaushaltes kommen, die bei Mädchen zu einem Ausbleiben der Menstruation führen können. Störungen des Magen-Darmtraktes können folgen, bis hin zum Absterben von Hirngewebe.

Die psychosozialen Folgen entstehen sowohl aus der jeweiligen Symptomlage, als auch aus den genannten körperlichen Folgen. Häufig kommt es schambedingt zu sozialer Isolation.
Um nicht aufzufallen meiden die Betroffenen Situationen, in denen sie mit Essen konfrontiert werden könnten.
Es kommt zu labilen Stimmungslagen, die durch die Angst vor Entdeckung, die Scham über das eigene Fehlverhalten und die soziale Isolation noch verstärkt werden.
Es kommt zu kognitiven Beeinträchtigungen, da das gesamte Denken nur noch um die Beschaffung oder die Vermeidung von essen kreist. Auch die Aufmerksamkeit und die Konzentrationsfähigkeit können gestört sein.

Das fortgesetzte, den Tagesablauf bestimmende Diätverhalten, führt zu weiteren Gewichtsabnahme. Das verringerte Selbstwertgefühl, dass sich aus dem Ekel vor den Brech- und Essattacken ergibt, vermindert sich weiter und die innere Leere wird durch neues Essen gefüllt.
Der inneren Anspannung versuchen die Betroffenen mit weiterem Fasten Herr zu werden.

Nur in den seltensten Fällen kann dieser Kreislauf aus Symptombildung, aufrecht erhaltenden Faktoren und erneuter Symptomverstärkung aus eigener Kraft und Anstrengung durchbrochen werden. Die Behandlung von Ess-Störungen erfolgt in stationären Verhaltenstherapien oder ambulanten Nachsorgen meist in Form von Gruppentherapien.

Bei dem bisher Gesagten könnte man den Eindruck gewinnen, dass nur Mädchen oder junge Frauen von Ess-Störungen betroffen sind. Und oft ist das auch die landläufige Meinung.
Tatsächlich haben sich in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren jedoch auch die Zahlen der Jungen, die unter Ess-Störungen leiden, deutlich erhöht. Dieser Umstand dürfte mit den oben skizzierten Schlankheitsmodellen zu tun haben, die mittlerweile auch für Jungen Vorbildcharakter haben.
Während man jungen Mädchen immer schon mit der Forderung begegnet ist, auf ihr Äußeres zu achten, scheint diese Forderung mittlerweile auch für Jungen zu gelten.
Dadurch sind die Ess-Störungen mittlerweile zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem geworden. Und die Erkrankungen finden sich in allen Gesellschaftsschichten und eben bei beiden Geschlechtern.

Zum Schluss möchte ich Euch noch ein letztes Störungsbild vorstellen, über das zur Zeit lebhaft gestritten wird: die so genannte Orthorexia nervosa.
Diese Störung ist insofern ungewöhnlich, es sich um eine Form der Ess-Störung mit Zügen einer Ersatzreligion oder eines Lebensstiles handeln könnte. Der Kunstbegriff Orthorexia bezeichnet eine übermäßige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit der richtigen Ernährungsweise. Sei diese nun vegetarisch, vegan, lactos- und/oder glutenfrei, gerne kombiniert mit weiteren Einschränkungen der althergebrachten Ernährungsweise.

All diese Ernährungslehren haben gemeinsam, dass sie ihren Anhängern ein mehr an Gesundheit und Lebenskraft versprechen. Gleichzeitig werden sie aber auch zu moralischeren Konsumenten, da beispielsweise durch die vegane Ernährung das Leid von Schlachtvieh gemindert wird oder sich die Co2-Bilanz der Ernährung verbessert.

Die grundsätzlichen Überlegungen dieser Ernährungsweisen sind gut und richtig. Und viele Ratschläge und praktische Umsetzungen im Alltag, sind es wert auch befolgt zu werden. Problematisch werden diese Diäten allerdings dann, wenn die Beschäftigung mit ihnen lebensbestimmend wird und beginnt den Alltag einzuschränken.

Ähnlich wie bei den oben erwähnten Ess-Störungen kann es dann nur zu einer kognitiven Einengung auf das Thema Ernährung kommen. Zusätzlich treten noch Symptom erhaltende Faktoren aus der moralischen-geistigen Sphäre hinzu. Zum Beispiel das Bewusstsein, das richtige zu tun, während alle anderen falsch handeln.
Das kann zum dem Gedankenkreislauf führen, dass man noch mehr tun muss, sich noch mehr um die richtige Ernährung bemühen muss, noch mehr potentielle Umweltgifte von seinem Kind fern halten muss usw.
Ob es sich bei der Orthorexia nun um eine Ess-Störung handelt ist bislang umstritten und sie hat auch keine Aufnahme in die ICD gefunden. Aber egal, ob es sich um eine Ess-Störung oder nur um eine Mode handelt — auffällig bleibt dieses Verhalten allemal.

Ich hoffe ich konnte Euch einige neue Informationen und Ideen zu unserem Thema vermitteln. Tut ihr mir einen Gefallen? Abonniert meinen Podcast, vielen Dank. Und wenn ihr jemanden kennt, den dieser Podcast interessieren könnte — empfehlt mich gerne weiter. Ich würde mich freuen.
Bevor ich zum Ende komme, möchte ich euch nochmal an mein Webinar erinnern: ihr findet es auf meiner Website „pruefungsdoping.de“ — oben rechts, der türkise Button.
Wenn Ihr wollt, hören wir uns nächsten Woche wieder. Dann haben wir die Abstinenz-Regel in Beratung und Therapie zum Thema.

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